Die Kurzgeschichte: «Reise ins Unbekannte»
Als das erste Mal diese frische Brise um meinen Kopf wirbelte, wurde mir schlagartig bewusst, dass diese Welt anders ist als die vorherige.
Ich konnte zwar noch nichts sehen, doch ich spürte, dass etwas ausserordentlich Spannendes, Neues auf mich zukommen würde. Ich sog diesen seltsamen Duft, der nach Entzückung, aber auch ein bisschen nach Abenteuer roch, in mich hinein.
Und ich war nicht allein. Es krabbelten noch andere, die sich wie ich selber anfühlten, um mich herum. Heute weiss ich, dass man sie «Geschwister» nennt. Ich kam also in diese Welt mit vier Geschwistern.
Jedes von uns bemühte sich nach Kräften, dorthin zu gelangen, wo es warme, leckere Nahrung gab und wo wir uns unbeschreiblich wohl fühlten.
Neben den vier weichen und warmen Körperchen meiner Geschwister lag ein grosser Körper, der am Anfang fast immer da war, aber nach und nach für immer längere Zeit verschwand. Allmählich begann ich die Umgebung um mich herum zu erkunden. Ich wollte wissen, was jenseits des weichen, aber ziemlich hohen Randes unserer kleinen flauschigen Welt lag. So purzelte ich eines Tages über das Hindernis und landete auf einem harten Untergrund. Autsch! Das tat ziemlich weh. Aber meine Neugierde war so gross, dass ich das Zwicken schnell vergass. In der Ferne glänzte ein heller Streifen und er zog mich magisch an. Sachte näherte ich mich dem Licht und ich spürte in mir ein leises Unbehagen. Was lag hinter dieser Welt, die ich vor wenigen Tagen neu zu erleben begonnen hatte? Je mehr ich mich dem hellen Schein näherte, umso mehr pochte es von innen an meine Brust. Ich steckte vorsichtig meine Nasenspitze durch die Öffnung und musste einen Moment die Augen schliessen. Nach einer kurzen Weile öffnete ich sie sachte wieder, trat nun endgültig durch die Öffnung hindurch und erblickte etwas unbeschreiblich Schönes! Alles um mich herum war in voller farbiger Pracht. Alles leuchtete und es roch wundervoll. Mit einem Mal wusste ich, dass es nicht nur eine Welt gab, sondern viele verschiedene Welten und diese hier war die schönste, die ich mir vorstellen konnte. Nachdem ich eine Weile dagestanden hatte, unfähig mich zu rühren, bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Von hinten drängten sich meine vier Geschwister durch den Spalt, gefolgt von dem grossen Körper, dem meiner Mutter.
Die andern, meine Mutter, meine Geschwister und ich mittendrin, alles war wunderschön! Jeder von uns so ähnlich und doch ganz anders. Vor Freude fing ich an zu hüpfen und zu springen. Auch meine Geschwister mussten Ähnliches gefühlt haben. Am Ende rannten wir wie wild umher, mal hintereinander, mal übereinander oder durcheinander. Das Glück war unendlich und ich fühlte, dass es nichts Schöneres gab, als hier zu sein! Damals wusste ich noch nicht, dass dieses Glück nicht ewig dauern würde und dass sich meine Welt, wie ich sie kannte, verändern sollte.
Die Veränderung kam in Form eines dumpfen Grollens. Zuerst war es nur leise hörbar, kam aber immer näher und wurde immer lauter, bis es endlich verstummte.
Meine Geschwister und ich rannten aus unserem Haus. Aus einer grünen Kiste stiegen drei riesige Gestalten, die mir Angst machten. Sie waren noch riesiger als unsere Herrin (die nicht von unserer Art war) und die eine ziemlich schrille Stimme hatte. Ich verzog mich hinter einen Baum. Da war ich sicher und konnte das Geschehen aus Distanz beobachten. Die Gestalten sprachen mit der Herrin und traten auf uns zu. Ihre Stimmen waren nicht schrill, sondern weich und sanft. Es zog mich hin zu ihnen und ehe ich mich versah, fand ich mich auf dem Arm der kleinsten der Angekommenen wieder. Sie redete zu mir und streichelte über meinen Kopf, was mir durchaus gefiel.
Erst jetzt erkannte ich am Boden noch ein weiteres Wesen unserer Art. Es war gleich und doch irgendwie anders, etwas scheu und sehr zurückhaltend. Es sagte kein Wort, stand aber ganz nah bei dem grössten Fremden. Ich war neugierig und wollte hinunter.
So setzte man mich auf den Boden und ich beschnupperte die Fremde, welche etwas zurückwich, mich musterte und dann aber leise Freude zeigte.
Nun traten wir alle in unser Haus. Die Herrin und die Fremden redeten und redeten. Anfangs spielte ich noch mit meinen Geschwistern, aber allmählich wurden wir müde, krochen in unser Nest und schliefen ein. Ich träumte und da war er wieder, dieser verführerische Duft, den ich bereits einmal in mich hineingesogen hatte!
Als ich aufwachte, war es bereits hell. Meine Herrin war sehr geschäftig und etwas nervös. Da hörte ich wieder das brummende Geräusch, welches immer näher kam und bald darauf standen die fremden Gestalten wieder in unserem Haus.
Die Herrin setzte sich mit ihnen an einen Tisch, während wir Jungen herumtollten und uns amüsierten. Auch die andere von unserer Art war wieder dabei, immer noch scheu, immer noch zurückhaltend, aber sehr sanft. Sie roch irgendwie anders, feiner, edler. Sie gefiel mir gut und ich wünschte mir, auch einmal so stolz und schön werden zu können wie sie! Plötzlich standen alle auf. Man nahm mich wieder auf den Arm und sprach zu mir, streichelte mich und machte lustige Sachen mit mir. Das gefiel mir.
Nach einer Weile bekam ich ein Band um den Hals gelegt, welches man an einer langen Schnur befestigte. Danach wurde ich in einen Korb gesetzt und aus dem Haus getragen.
Meine Mutter war sehr aufgeregt. Sie weinte und sprang immerfort an meiner Herrin hoch und als wir zum Tor liefen, schauten mich alle traurig an.
Das Tor schloss sich hinter uns und da begriff ich erst, dass sich die Welt, wie ich sie kannte, für immer verändern würde.
Wir stiegen in die grüne Kiste und fuhren langsam davon. Würde ich meine Geschwister, meine Mutter je wieder sehen? Würde ich jemals wieder herumtollen können?
Mir wurde bang und etwas schwindlig. Ich begann zu schluchzen und die kleinste der Fremden drückte mich fest an sich. Ich bekam Angst und viele Fragen wirbelten durch meinen Kopf. Was sollte mit mir geschehen? Wohin ging die Reise? Wer waren die Fremden mit der sanften Gleichartigen? Ich wollte raus aus diesem lauten Kasten, weg von hier, wieder zurück zu meiner Familie. Zuerst wehrte ich mich, wollte mich dem Griff der Fremden entwinden, versuchte zu kratzen und zu beissen, doch allmählich wurde ich müde und erschöpft. Ich rollte mich in meiner Tasche zusammen und schlief ermattet ein. Irgendwann, ich glaube, dass ich lange schlief, hielt die Kiste an und wir stiegen bei einem fremden Haus aus. Ein milder Abendwind umwehte meine trockene Nase. Es roch würzig und in den Büschen zirpte und zwitscherte es. Jetzt erkannte ich, dass das Haus umgeben war von einem grossen weiten Garten mit wunderbaren Büschen, die ganz fremd dufteten und mit Bäumen, die bis hinauf zum Himmel ragten.
Staunend stand ich eine Weile da, bis mich die Stimme der kleinen Fremden aus meinen Träumen riss. «Ondine, komm, komm her!» Ondine? War damit ich gemeint? Die Edle meiner Art wurde auch gerufen. «Grischa, wo bleibst Du?» Das waren also unsere Namen, Ondine und Grischa. Wir traten ins Haus und bekamen etwas Leckeres zu essen. Die Aufregung hatte mich richtig heisshungrig gemacht. Ich schlang die Nahrung mit wenigen Bissen hinunter. Es war zwar alles fremd hier, aber irgendwie war es auch schön. Draussen war es bereits dunkel und die Sterne funkelten am klaren Himmel. Ich bekam ein schönes, weiches Bett, in dem ich nicht alleine schlief, sondern Seite an Seite mit der zurückhaltenden, schönen Grischa. Bald schlief ich ein und träumte wild von fremden Welten, wundersamen Geräuschen und betörenden Düften.
Am nächsten Tag ging ich auf Entdeckungsreise! Der Garten war riesig, grösser, als ich am Vorabend gedacht hatte. Überall summte und brummte es, überall wuselten kleine Tierchen umher, überall flogen Vögel von Ast zu Ast . Ich rannte durch das vertrocknete Gras, jagte Insekten und anderes Kleingetier und liess mich schliesslich müde, aber zufrieden in den Schatten eines grossen, weitausladenden, breitblättrigen Baumes fallen. Es ging mir gerade so richtig gut. Verflogen war die Angst von gestern. Zwar kam ich nicht umhin, an meine ferne Familie zu denken und etwas Schweres legte sich kurzzeitig auf mein Gemüt. Aber bald schon nahm mich die phantastische neue Umgebung gefangen und nahm alles Bedrückende weg von mir.
So vergingen die Tage. Allmählich vergass ich meine alte Familie und gewöhnte mich an das Leben in meiner neuen Umgebung. Grischa wurde mir immer vertrauter. Immer wieder versuchte ich, sie aus ihrer Ruhe zu bringen, sie zum Rumtollen und Spielen zu animieren. Es gelang mir nicht! Trotzdem mochten wir uns von Tag zu Tag lieber. Wenn ich Wärme brauchte, legte ich mich einfach auf sie drauf oder kuschelte mich an ihren Rücken. Das Leben war wieder wunderschön!
Doch auch dieses Leben sollte sich eines Tages verändern.
Irgendwann steckte man mich wieder in die grüne Kiste zusammen mit vielen Sachen und wir fuhren sehr weit, bis wir in einer kühlen, dunklen Nacht abermals vor einem mir unbekannten Haus ausstiegen.
Erst viel später erfuhr ich, dass das mein richtiges Zuhause werden sollte. Auch hier würde ich mich einleben, anpassen und viele neue Freunde finden. Mein Herz jedoch hatte ich an den wunderschönen Ort verloren, der irgendwo weit weg lag und wohin ich hoffe, irgendwann wieder zurückkehren zu dürfen, zusammen mit Grischa, meiner Tante und den grossen Menschen, zu deren Familie ich jetzt gehöre und die mir nicht mehr fremd, sondern vertraut und sehr lieb geworden sind.