Kurzgeschichte: «Jetzt träumt sie halt davon»

Kurzgeschichte: «Jetzt träumt sie halt davon»

Um 5:47 würde die Sonne die Spitze des Berges bescheinen. Aber wirklich nur die Spitze. Um 5:51 würde die Sonne so weit steigen, dass sie den Schnee glitzern sehen würde. Und um genau 5:59 würde die Sonne beginnen, ihr Gesicht zu wärmen. Sie war eine genaue Beobachterin. Und ab 6:00 sah sie das ganze Tal. Ja, sie wusste es so genau, weil sie es so genau beobachtet hatte. Sie hatte es jeden Tag beobachtet, bis es passierte. Sie sagte immer es, weil sie nicht über den Unfall reden wollte. Sie wollte nicht als blind wahrgenommen werden und deshalb ist es ihr halt passiert.

 

Sie mochte die Wälder, die vom Schneesturm ziemlich mitgenommen aussahen. Aber doch standen sie noch da und sie fand sie wundervoll. Ihr gefiel vor allem die Farbe, die grüne, geheimnisvolle Farbe der Tannen, die unter dem Haufen Schnee hervorlugte. Wenn sie sich an den Tannen satt gesehen hatte, machte sie sich auf die Suche nach der Hütte. Sie hatte sich immer gewünscht, in solch einer Hütte zu leben. Ihr Blick schweifte nochmals zu den Tannen, sie konnte sich doch nicht satt sehen. Die kleine heruntergekommene Hütte. Es war keine schöne Hütte, aber es war ihre Hütte. Ihre Hütte, die sie noch nie betreten hatte und nie von nahem sehen wird. Mit dem hellen Holz hatte sie zwar Mühe, aber dafür gefiel ihr der Kamin umso besser. Sie fragte sich nur, warum nie Rauch aus dem Kamin quoll. Wenn man so einen Schönen Kamin hatte, würde man ihn doch auch benutzen. Sie hätte den Kamin viel benutzt. Sie hätte sich mit ihrer alten Katze vor das Feuer gesessen und nach draussen geschaut. Und weil sie das nicht konnte, schaute sie halt einfach nach draussen. Ohne den Kamin, aber mit der Katze. Sie sah den Wolken zu. Sie konnte ihnen stundenlang zusehen. Am Morgen, noch bevor sie die beleuchte Spitze des Berges sah, waren die Wolken da. Kleine zarte Wolken, die darauf warteten, grösser zu werden. Doch jetzt, am Anfang des Tages, waren sie noch kleine Wolken. Und da, die erste Wolke wurde von der Sonne beschienen. Noch nicht zu fest, ganz zart zogen sich feine goldene Fäden durch das Wölklein, bis das ganze Wolkenmeer von Gold durchzogen war. Nach einiger Zeit war das Gold weg, und die Wolken waren grosse weisse Stoffknäuel. Während des Tages hatte sie die Wolken ein wenig vernachlässigt, es gab ja so viel anzuschauen. Sie hätte gerne gewusst, was die Tageswolken, die grossen weissen Knäuel, zu zeigen hätten. Dafür hatte sie die Nachtwolken umso genauer betrachtet. Ihr gefiel das Mysteriöse. Sie fühlte sich frei und leicht, wenn sie die dunklen Wolken betrachtete. Als gebe es nur sie und die Wolken. Sie hätte viel getan, diese Wolken jetzt zu sehen. Sie wusste, dass sie ihr Augenlicht nicht wiederbekommen konnte, aber sie hoffte trotzdem. Jetzt sass sie da mit ihrer Katze, die sie nicht mehr sah, vor den Tannen, die sie nicht mehr sah, und träumte von der Katze und den Tannen.

«Schtüpid!» – «Fragebogen!» mit Emanuela Cucini

«Schtüpid!» – «Fragebogen!» mit Emanuela Cucini

5 Fakten zu Weihnachten

5 Fakten zu Weihnachten