Valentinstag — Eine Kurzgeschichte von Martin Shen
Ich wollte dorthin, wo die Schamvollen, die Erbärmlichen verweilten. In das Tal der Tränen. Mit mir trug ich ein Seil, eine Laterne, ein Stück totes Fleisch, ein scharfes Messer und ein leeres Weinglas. So wanderte ich durch Berge im prachtvoll glänzenden Schnee, durch farbige Wiesen voller blühender Blumen, durch schattige Wälder mit reinster Atemluft. Doch mir gefiel diese Natur nicht. Wie ein Narr verspottete sie mich, wenn sie an der Tür meiner leeren Seele klopfte. Denn dies machte mir klar, wie klein und zerbrechlich das Licht und wie mächtig und unbeweglich die Schwärze war. Ich trank dann mein Elixier, dass meine Sinne verschwammen, dass ich den Spott dieser Narren nicht mehr hören musste, dass die Schwärze übernahm. So überstand ich die prachtvoll schöne Natur meiner Wanderung.
Nun war ich angekommen, im Tal der Tränen. Neben mir ragten unendlich hoch scheinende Felsen. Harte Kanten, wie Schatten schweigender Geister, hingen bedrohlich über mir. Allein stand ich dort, am Boden der schmalen Kluft, wo das Licht der Oberfläche selbst am hellsten Tage nicht zu scheinen wagte.
Ich fühlte mich endlich daheim.
Vor mir stand der Baum. Der Baum, den die Menschen den Baum der tausend Krallen nannten, denn seine unzähligen Äste sahen in der Dunkelheit aus wie tausend Krallen. Krallen, als griffen sie hungrig nach allem Lebendigen, das sich in ihre Reichweite zu begeben traute. Ich hörte, dass der Baum anfangs Februar schon die ersten Früchte trug und wahrlich, ich erblickte sie. Wie ausgeloschene Laternen hingen sie von den Ästen.
Man erzählte, der Baum der tausend Krallen verführe Menschen in das Reich der Dunkelheit. Schon mancher Wanderer kehrte nicht mehr aus dem Tal der Tränen zurück und man riet mir davon ab, dorthin zu gehen. Sie wussten nichts, denn sie kannten mich gar nicht. Ich setzte mich unter diesen Baum hin und packte langsam meine Sachen aus. Als erstes zündete meine Laterne an. Die Schatten tanzten im flackernden Licht der Laterne wie Skelette auf den kantigen Felsenwänden. Es waren grässliche Schatten.
Behutsam legte ich das Fleisch auf den Boden, zog mein Messer hervor und mit einer einzigen schnellen, aber sicheren Bewegung schnitt ich hinein. Das Blut floss und hörte nicht auf zu fliessen. Es war, als lebten die Zellen dieses totes Tieres noch, als atmete es noch, als pochte dieses Herz noch, doch ich war war mir sicher. Innerlich war es tot, tot für immer und tot blieb es. Ich sammelte dieses Blut in meinem Weinglas und als es genau zur Hälfte leer war, fing ich an zu trinken. Das Blut schmeckte nach brennender Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die einst in einer leeren Seele gefangen war. Ohne Treibstoff verweilte das Feuer dort, doch es musste brennen, also verbrannte es die Seele selbst, bis nur noch Asche übrig war. Aus seinem Gefängnis nun endlich entkommen, war es immer noch hungrig. Da es die Seele schon verbrannt hatte, brannte es nun im Blut. Dieses höllische, qualvolle Brennen, überall im Körper. Dieses Tier litt bis zu seinem letzten Atemzug. Ich verzog mein Gesicht und stellte das Weinglas auf die Seite. So bitter war das Getränk, so schrecklich.
Regentropfen fielen herab. Ich sah sie nicht klar in der Dunkelheit, doch ich spürte sie - ich spürte die kalten Tropfen, wie sie gegen mein Gesicht klatschten. Ich wusste nun, wie das Tal seinen Namen bekommen hatte.
Die Schlaufe war befestigt und ich hing die Laterne an den Baum. Sie passte perfekt. Ich lächelte. Stundenlang starrte ich zufrieden hinein, bis das Licht der Laterne erlosch. Nichts als Dunkelheit verblieb. Ich lag, nein ich schwebte nun im leeren Raum und liess mich von den tausend Krallen ergreifen. Sie packten mich am Hals, gewaltsam zogen sie mich hinein, doch ich wehrte mich nicht. Mit meinem letzten Atemzug umarmte mich die Dunkelheit und ich sie. Nun war ich endlich angekommen. Nun war ich vollkommen. Hier gehörte ich hin.
Jeden Februar, am Vierzehnten, im Tal der Tränen, da ist ein Baum. Ein Baum mit tausend Krallen und Leichen hängen von seinen Ästen, wie reife Früchte im Frühling. Im stillen Prasseln des Nieselregens schweigen sie. Oh, siehe da, ein neuer Wanderer, bepackt mit Seil, Laterne, Fleisch, Messer und Weinglas. Es scheint ein erntereiches Jahr zu werden. Ein sehr erntereiches Jahr.