«Versuch’s doch, das nächste Mal besser zu machen»

«Versuch’s doch, das nächste Mal besser zu machen»


Alfred Baumgartner (66) lehrte während 33 Jahren Alte Sprachen an der HoPro, bevor er im Juli letzten Jahres pensioniert worden ist. Er war während fast zwanzig Jahren Rektor und leitete die Sanierung der HoPro in die Wege. Wenn er nicht gerade an seiner Modelleisenbahn am Werkeln ist, verbringt er viel Zeit mit seinen Enkeln.

Der heutige Gesprächspartner wird zufällig von Konrad Zollinger zur Mediothek eskortiert. Der heutige Rektor gibt seinem Vorgänger – halb witzelnd, halb mitleidig – beste Wünsche mit auf den Weg.


Herr Baumgartner, Sie sind jetzt schon seit über einem Jahr im Ruhestand. Vermissen Sie das Schulegeben?

Da habe ich jetzt eine klare Antwort: Nein! (lacht) Nein, wirklich nicht. Ich war ziemlich überzeugt, dass ich es nicht vermissen würde. Ich habe in diesen mehr als 33 Jahren viel machen können und auch viel erlebt. Aber dass es so locker geht, das hat mich erstaunt. Es hängt aber wahrscheinlich schon mit dem grossen Glück zusammen, Enkel in einem goldrichtigen Alter zwischen eins und fünf Jahren zu haben. Man kann sich wirklich einbringen. Das ist etwas völlig Anderes – und sehr Schönes!

Sie haben vor langer Zeit an der HoPro angefangen...

...also, so lang ist es auch wieder nicht. Das war 1983, um genau zu sein.

Was hat sich seit damals am meisten verändert?

Wahrscheinlich die Schüler. Bis zu einem gewissen Grad auch der Stil des Unterrichts, aber weniger stark, als man annehmen könnte. Dies, weil die Hohe Promenade schon damals eigentlich sehr Wert darauf gelegt hat, dass die Schüler selber etwas machen können. Mit dem Äusseren aber; mit der Digitalisierung und den ganzen Einflüssen, die da vorhanden sind, ist die Schule mehr oder minder zu einem Teilaspekt geworden. Früher war sie sicher das Ein und Alles für Schüler. Als Lehrer haben wir noch mit Alkoholmatrizen unsere Lektionen vorbereitet. Da war man sehr stolz, wenn man eine Matrize herstellte mit sogar zwei Farben

«An den heutigen Schülern gefällt mir, dass sie das ganze Autoritätsgekurve nicht mehr machen.»

Ist die Schule eher strenger geworden oder lockerer?

Subjektiv hatte ich am Schluss den Eindruck, es sei schon etwas gar locker geworden. Aber trotzdem kann man nicht sagen, es sei leichter geworden. Ich habe sogar eher das Gefühl, für die Schüler sei es anstrengender geworden. Die Aufbereitung der Unterrichtselemente ist viel enger gefasst worden, das heisst, der Anspruch an den Schüler ist eher gestiegen als gesunken.

Wie hat sich das Verhältnis Schüler – Lehrer entwickelt?

Schon relativ stark, und zwar zum Guten. Ich war damals ein junger Lehrer, das war also nicht so schwierig mit den Schülern. Gegenüber den alten Professoren gab es aber sehr klare Abgrenzungen. Das waren wirklich Personen, die man nur mit Demut ansprach, sogar innerhalb des Lehrkörpers. Aber das hat sich relativ rasch geändert. An den heutigen Schülern gefällt mir, wie offen und frei sie sind und nicht das ganze Autoritätsgekurve machen. Das Verhältnis ist also lockerer geworden, und auch offener und ehrlicher.

Wenn ich mich nicht komplett täusche, waren Sie während der 68er-Unruhen im Gymnasialalter... Es gibt diese zahlreichen Fotografien von protestierenden Schülern und Studenten.

Ich gehörte nicht zu diesen Schülern, aber wir haben es natürlich miterlebt. Man muss auch sagen, ich ging an eine «Land-Schule», nämlich die Kantonsschule Baden. Das war eine Zeit der starken Politisierung, gerade auch an der Universität. Ich habe immer ein bisschen Mühe mit diesen aufgeregten Politveranstaltungen, auch heute. Wenn jetzt da zum Beispiel irgend so ein – wie heisst das Ding da...? – «Shitstorm» sich ereignet, sage ich immer: Die guten Leute sind arm dran. Meistens, wenn übertrieben reagiert wird, kommt am Schluss nicht viel dabei heraus.

Sind die Schüler heute im Vergleich zu damals apolitischer?

Ich glaube, sie sind politisch weniger extrovertiert. Ich glaube schon, dass Kantonsschüler in sehr verschiedenen Bereichen durchaus kritisch sind. Aber man macht sicher nicht mehr riesige Initiativen, Plakatwände und Streiks. Ganz brutal ausgedrückt ist es eine Art von «Domestizierung». Vielleicht ist es aber auch die Einsicht, dass kontinuierliche Arbeit für ein Thema letztlich doch mehr bringen kann als eine riesige Aufregung oder Revolte. Ich glaube, es ist einfach eine völlig andere Art, wie man seine Anliegen vertreten will.

Zum «Vernünftigen»?

Vernünftig ist ein relativ heikles Wort. Denn als «vernünftig» gelten oft Leute, die nicht reklamieren. Wenn Sie «vernünftig» in diesem Sinne auffassen, dann wäre es schade, wenn sie «vernünftig» geworden wären. (lacht)

Muss man als Rektor Schüler einschüchtern können?

Nein, das macht man automatisch kraft der Stellung. Den Schülern ist es schon klar, dass sie jemanden vor sich haben, der gewisse Entscheidungskompetenzen hat. Einschüchtern ist sicher der völlig falsche Weg. Das funktioniert nicht. Wenn jemand einmal wirklich einen Mist gebaut hat, dann muss er halt antraben und dafür hinstehen.

Gehen einem als Rektor persönliche Momente emotional nahe?

Man hat natürlich sehr viele persönliche Momente. (Zögert) Das kann sein, wenn ein Kollege ganz grosse Probleme hat, zum Beispiel gesundheitliche Probleme. Ich erinnere mich auch an die Geschichte mit dem Selbstmord einer Schülerin. Das war mehr als nur heavy. Sie haben als Rektor pro Tag vier oder fünf Situationen, bei denen sie dann sagen: Wenn die nicht passiert wären, dann wäre das auch noch ganz nett gewesen. Aber das gehört einfach zum Job. Es ist gleichzeitig auch das Spannende daran. Sie wissen nicht, was als Nächstes kommt. Ich habe nicht ein Erlebnis, von dem ich sagen muss, das habe mich innerlich kaputt gemacht.

Welche Prominente haben die HoPro besucht?

«Ich glaube nicht, dass man eine Show abziehen oder irgendwelche furchteinflössenden Gebaren auspacken muss, um Autorität zu haben.»

Das ist jetzt ein grosses Problem. Ich habe erst am Schluss meines Rektorats realisiert, dass wir einen PR-Fehler gemacht haben. Für uns war es gar kein Thema, dass man mit den eigenen Absolventen blufft. Das ist heute ja absolut in. Bei uns waren aber sehr viele prominente Leute. Vor allem, wenn wir auf die alte Töchterschule zurückgreifen. Bei mir hat zum Beispiel Nationalrätin Barbara Schmid-Federer (CVP/ZH) Latein gehabt. Oder der langjährige Magazin-Kolumnist Daniel Binswanger. Diese Namen haben einen Bezug zu mir als Lehrer, aber ich weiss effektiv nicht, welche Prominenten alle an der HoPro waren.

Glauben Sie an Strafen?

(Lachen) Wenn Sie mich das vor drei Jahren gefragt hätten, dann hätte ich gesagt: ja. Bei meinen Enkeln sehe ich, das sie sehr gut auf Konsequenz reagieren. Wenn ich etwas androhe, dann muss nachher etwas folgen. Das ist die grosse Gefahr in der Schule, dass man droht. Eine leere Drohung ist absolut tödlich! Ich glaube, für eine geordnete Institution wie eine Schule braucht es durchaus Strafen, oder besser «Sanktionen». Damit auch allen klar wird, es halten sich alle an diese Regeln, man kann nicht einfach machen, was man will.

Wie setzt man als Lehrer seine Autorität durch?

(lacht) Haben Sie noch viele so schwierige Fragen? Bei der Mittelschulstufe habe ich das Gefühl, in erster Linie ist es die Fachkompetenz. Dass ein Lehrer zeigen kann, dass er eine klare Idee vom Fach hat, gut erklären kann und auf Rückfragen plausibel antworten kann. Ich glaube nicht, dass man irgendeine Show abziehen oder irgendwelche furchteinflössenden Gebaren auspacken muss, um sogenannt Autorität zu haben. Die Autorität kommt aus der Person heraus.

Wieso sind Sie eigentlich Lehrer geworden?

(lacht) Das ist eine gute Frage, ich weiss es auch nicht. Ich habe das wahrscheinlich schon immer gern gemacht. Bei den Pfadfindern bin ich Pfadfinderführer gewesen. Das war für mich irgendwie klar. Mit Leuten etwas zu tun, das hat mir wirklich Spass gemacht. In der Pfadi, im Militär, in der Schule.

Aus welchem gesellschaftlichen Milieu stammen die HoPro-Schüler?

Aus ganz verschiedenen. Das können also Immigrantenfamilien sein oder natürlich Schüler von der Goldküste. Da ist die ganze Spannweite drin, auch wenn das Ganze vielleicht doch leicht verzogen ist. Viele stammen aus dem sogenannten Bildungsbürgertum oder bildungsnahen Schichten. Daran kann man nichts ändern, das ist aber auch nicht unbedingt ein Nachteil.

Vor der Gymiprüfung, als ich noch Sechstklässler war, da ging ein bisschen das Gerücht herum, die HoPro sei eine «Streberschule».

Das wissen wir natürlich, dass man das sagt. Bis zu einem gewissen Grad finde ich das nicht einmal schlecht, wenn man das Gefühl hat, das ist eine Schule, die etwas von ihren Schülern verlangt. Wir haben dazu eigentlich immer nur gesagt: Schaut einmal her, wie unsere Absolventen am Schluss dastehen und wie viele während und nach der Universität einigermassen schnell Erfolg haben. Darum: Warum auch nicht?

Ist das Latein eine tote Sprache?

(lacht) Das ist eine Definitionsfrage. Das Latein entwickelt sich nicht mehr direkt weiter und wird nicht von einer Ethnie gesprochen. Daher kann man es schon als tot bezeichnen. Von der Wirkung und von der Substanz her würde ich aber sagen, nein. Wir gehen ja auch davon aus, dass Bäume lebende Wesen sind. Da ist der Stamm und dann hat es am Schluss die glitzernden Blätter. Latein ist also der Stamm, und wir haben heute glitzernde romanische oder römische Sprachen.

Wie verändert sich der eigene Alltag, wenn man Lateiner ist?

Er verändert sich zuerst einmal sicher nicht. Auf der anderen Seite habe ich das Gefühl, man habe eine erhöhte Wahrnehmung. Man merkt: Aha, das hängt ja mit dem und dem zusammen! Es ist so eine Art wie dieser berühmte Spruch: Das Eigene mit fremden Augen sehen. Man sieht dann vielleicht auch, was nicht mehr genau das Gleiche ist. Kurz, man geht mit einem etwas wacheren Hintergrund durch die Welt.

Haben wir nichts gelernt seit dem alten Rom?

Wir haben sehr viel gelernt, die Menschheit hat sich stark weiterentwickelt. Nehmen wir zum Beispiel die Renaissance oder die Aufklärung, oder den technologischen Fortschritt. Ich würde sagen, weniger geändert haben wir uns beim «menschlich allzu Menschlichen», oder bei den Grundfragen des Lebens, die sind gleichgeblieben, und stellen sich vielleicht heute in gewissen Dingen sogar noch schärfer als früher.

Aber es gibt ja immer noch Krieg, auch Despoten und Religionskämpfe?

Die Frage ist, ob die Entwicklung der Menschheit zwingend zum Besseren gehen muss. Das ist ja die Hoffnung, die man hat. Wenn ich sage, dass sich gewisse Dinge nicht geändert haben, dann meine ich, dass sich der Mensch wenig geändert hat. Als Beispiel nenne ich die Frage der Macht, die steht ja am Ursprung aller Kriege. Es geht dabei nicht nur um Macht im politischen Sinne, es geht um Macht auch im finanziellen Sinne, es geht um Macht im Bereich der Medien.

Wie viel vom alten Rom können wir in unserer Gesellschaft noch finden?

Wahrscheinlich finden wir mehr als wir meinen. Ich kann jetzt natürlich die Trivialitäten aufzählen. Die Architektur mit dem Bogen und der Wasserversorgung, die Jurisprudenz, die europäischen Wissenschaften und die Literatur. Die Rhetorik, die heute so im Vordergrund steht, ist keine Erfindung der heutigen Zeit. Sie hat mit den Griechen begonnen und ihre grössten Exponenten sind Römer. Deren Werke und Lehren stimmen auch heute noch.

Die Blüte des römischen Reichs war vor ungefähr zweitausend Jahren. Wir kennen aus dieser Zeit berühmte Figuren wie Caesar oder Cicero. Was trug zu deren Legendenbildung bei?

Diese Frage ist eng mit einer anderen Frage verknüpft: Wie und was ist damals überliefert worden? Der Strom ist ja relativ dünn, bei den Griechen ragen ähnlich wie in Rom wenige Namen heraus. Mir ist spät aufgefallen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der politischen Situation und dem Überdauern von bestimmten Ideen, die dann in Personen abgebildet werden. Die grossen Werke der Antike sind in einer Blütezeit entstanden, die wiederum auf eine Katastrophe gefolgt ist. Diese Katastrophen sind offenbar ein Katalysator für eine Art von Befreiung und Klärung der Ideen. Das ist kein beruhigender Gedanke.

Welche heute lebende Person wird man noch in zweitausend Jahren kennen?

Das ist schwierig zu sagen. Die meisten politischen Grössen haben entweder sehr lange regiert oder eine riesige Katastrophe angerichtet. Sowieso werden alle heute bekannten Exponenten stark medialisiert. Das heisst, sie versuchen mit irgendwelchen Effekten gut dazustehen. Damit überdauert man aber nicht zweitausend Jahre. Das erste bewusst angelegte Konzept der Eigen-PR stammt meines Wissens aus der Römerzeit, nämlich von Augustus. Dieses Element der Inszenierung als Retter der Welt hat sich bis heute forttradiert. Im Moment trägt es offensichtlich noch, aber ob sich das irgendwann nicht gegenseitig aufschaukelt, das weiss ich nicht. Ich bin da – wahrscheinlich ist das eine Frage des Alters – etwas pessimistisch gestimmt.

Gerade zu diesem Führerkult gibt es heute wieder eine Tendenz. Trump und Erdogan sind nur einige Beispiele. Wieso hat sich dieser Führerkult über all diese Jahre halten können?

Auf diese Frage weiss ich ehrlich gesagt keine Antwort, da der Führerkult eigentlich jeder Vernunft widerspricht. Ein Mensch hat in einer komplexen Umgebung gerne einfache Lösungen. Er findet ganz gerne Situationen vor, in denen gesagt wird: «So ist es jetzt einfach, das ist deine Umgebung!» Der aufklärerische Ansatz, selbst Verantwortung zu übernehmen, der ist nicht nur angenehm, der führt zu Konflikten und Unsicherheiten. Der Mensch schätzt das nicht so wahnsinnig. Aber ich bedaure es sehr, es ist tatsächlich erschreckend, was im Moment passiert.

«Katastrophen sind offenbar ein Katalysator für eine Art von Befreiung und Klärung der Ideen. Das ist kein beruhigender Gedanke.»

Caesar hat mit seinen Comentarii de Bello Gallico eigentlich direkt zu seiner Legendenbildung beigetragen. Kann man heute noch in diesem Stil von seinen Erlebnissen schreiben, wird das toleriert?

Caesar ist ein Spezialfall, denn die comentarii sind im Prinzip ein politischer Rechenschaftsbericht, keine Biografie. Jener Bericht aber, der ist – wie soll ich das sagen – leicht frisiert. Ich bin nicht so sicher, ob wir heute wirklich eine so andere Situation haben. Denn dieses Frisieren findet man noch und nöcher. Wir können Dinge zwar nachprüfen, zum Beispiel in Zeitungen, aber damit kommen wir auf das Thema der Fake News und Informationsblasen. Für mich zentral ist die Frage der Archivierung und des Transports von Ideologien. Und was da alles transportiert wird, respektive in den versteckten Winkeln des Internets einfach dahinstirbt, das wissen wir auch nicht.

Griechenland wird gern als die Wiege der Demokratie bezeichnet, oder bezeichnet sich selbst gern so. Ist die damalige Auffassung dieses Begriffs mit der heutigen vergleichbar?

Der Ansatz der attischen Demokratie, bis hin zu den Losentscheiden, der geht in dieser Konsequenz weiter als das, was wir heute als Demokratie bezeichnen. Bei der schweizerischen direkten Demokratie sind immerhin alle relativ nahe dran und können mitentscheiden. Die anderen sogenannten Demokratien sind natürlich ein weites Feld. Wir müssen uns fragen, wo liegt denn eigentlich die Grenze?

Für Aristoteles ist die Demokratie in seinen sechs Regierungsformen sogar eher auf der schlechten Seite.

Ich weiss natürlich nicht, was er damit gemeint hat, ich bin ja nicht der Aristoteles. Aus meiner Sicht hat er versucht, immer wieder Extreme zu formulieren und dann eine Mitte zu finden. Für ihn kann sich die Demokratie selbst verzetteln, und da hat er ja nicht ganz Unrecht.

Dem Untergang des Römischen Reiches liegt ja zu einem gewissen Grad der Kampf zwischen Religionen zugrunde, speziell die rasche Ausbreitung einer bestimmten Religion. Wenn ich heute gewissen Politikern zuhöre, muss ich mich ja fast in diese Zeit zurückversetzt fühlen.

Ich würde das Gewicht ein bisschen anders legen. Für mich spielt der Druck der Völkerwanderung eine wichtige Rolle am Untergang der Römischen Reiches. Wir haben auf der einen Seite ein Imperium, das bei allen Schwächen doch einigermassen Wohlstand ermöglicht, und wir haben auf der anderen Seite Millionen, die auf dem Weg sind Richtung Süden. Das ist ein enormer äusserer Druck, und von daher kann man das durchaus mit der heutigen Zeit vergleichen.

Genau, heute findet doch etwas Ähnliches statt: Wir haben grosse Flüchtlingswellen, die kommen in einen der am weitesten entwickelten Teile der Welt, Europa. Dazu kommt noch, dass die meisten Flüchtlinge einer anderen Religion angehören. Ich erlaube mir jetzt diese, das gebe ich zu, etwas apokalyptische Frage: Droht uns dasselbe wie dem römischen Imperium?

(Überlegt länger und lacht kurz auf) Dass der Vergleich stimmt, da bin ich mir ziemlich sicher. Was daraus abzuleiten ist, ist allerdings etwas schwieriger. Zum einen sagt man: Wir integrieren einfach alle. Das halte ich zumindest für einen vernünftigen Ansatz. Aber das Zweite ist die Frage der Masse: Kann man das bewältigen? Es lässt sich auch leicht sagen, in den Herkunftsstaaten müsste man etwas aufbauen. Aber wie macht man das?

Man muss ja auch sagen, diese Flüchtlinge kommen nicht mit Waffen in Kriegszügen, wie das damals der Fall gewesen ist

Das nicht, aber der Druck ist trotzdem da. Der ist vergleichbar.

Der bedeutendste römische Autor?

Für mich ist es klar Vergil. Und zwar einfach von der Art her, wie er schreibt. Die Aeneis selber ist schlicht ein durchgestaltetes Kunstwerk, auch wenn sie ja nicht völlig vollendet ist. Mich fasziniert sie immer wieder. Alle wesentlichen menschlichen Probleme werden darin irgendwo angetippt.

Der bedeutendste römische Staatsmann?

(Überlegt lange) Tja, hm-hmm... Wahrscheinlich schon Augustus. Er hat es geschafft, aus der Spirale des Bürgerkriegs herauszukommen. Wenngleich die Mittel, die er da angewandt hat, menschlich und politisch nicht ganz sauber waren. Diese Leistung hat ihm einiges abverlangt, er hat sich ändern müssen – und das hat er ganz sicher gemacht.

Der bedeutendste Römer?

Ich muss jetzt ehrlicherweise sagen, diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Ich muss jetzt gerade blitzschnell rekapitulieren (rekapituliert). Man könnte natürlich Justinian nehmen, um ein bisschen zu überraschen. Er hat die endgültige Kodifizierung des römischen Rechts, das für Europa dann wahnsinnig wichtig geworden ist, zu verantworten. Oder dann halt wieder Vergil. Quintilian könnte man wegen der ganzen Rhetorik vielleicht doch auch noch nennen.

Gerade Justinian war mit dem Wechseln der Hauptstadt des Imperiums von Rom nach Konstantinopel sicher nicht unschuldig am Anfang vom Ende des römischen Reichs.

Nein, nein. Damit sind wir ja bei der Frage der Auflösung des Imperiums durch Machtkämpfe. Diese Frage wiederum führt uns wieder an den Anfang zurück. Es geht ja immer um die Macht. Einer tötet den anderen, und so weiter. Das funktioniert vom Ansatz her nicht. Man kann das alles nicht Justinian in die Schuhe schieben, aber er ist natürlich Teil davon. Auf der anderen Seite; Auflösung gehört zum Leben. (lacht)

Wie viele Komplimente haben Sie als Schweizer oder Helvetier schon erhalten für das strategisch gewitzte Verhalten der alten Helvetier gegenüber Caesar?

(lacht) Ich würde jetzt sagen, noch nie. Ich hab’s auch noch nie darauf ankommen lassen, dass das überhaupt zur Frage stand. Das verstehe ich jetzt nicht ganz....

Es ist ja ironisch gemeint...

...ja, ja... Das verstehe ich schon...

...Haben wir uns je wieder von der Niederlage bei Bibracte erholt als Schweizer? Das Ganze lässt sich ja so schön vereinfachen: Wir haben so etwas wie einen Minderwertigkeitskomplex, wir sind ängstlich, wir misstrauen oft.

Das hat aber nichts mit Bibracte zu tun. Und zwar aus dem simplen Grund, weil sich mittlerweile die ethnografischen Gegebenheiten völlig geändert haben. Ich würde das jetzt eher geosozio..., geografiesozi... oder sozialgeografisch, oder wie man dem auch immer sagen will, nehmen. Das hat mit der politischen und geografischen Situation zu tun.

Lassen Sie uns gegen Schluss von den Römern abdriften. Stellen Sie sich doch bitte einmal vor, Sie seien James Bond.

Hmmm.

James Bond kennen Sie schon, oder?

Ja, James Bond kenne ich. Den kenne ich gut.

Welchen lateinischen Einzeiler benutzen Sie, wenn Sie...

...ein Bond-Girl verführen möchten?

(lacht laut) Was?! Ein Bond-Girl?! Ähm... Puh! (überlegt) Ich weiss nicht, ob ich jetzt ein Bond-Girl mit einem lateinischen Spruch verführen würde. Sie müsste ja dann noch drauskommen, was ich sage. Ich weiss es wirklich nicht, keine Ahnung...

...stilvoll davonlaufen, während hinter Ihnen eine riesige Explosion stattfindet?

Dann würde ich wahrscheinlich nicht Latein sprechen, sondern sagen: «Nach mir die Sintflut!» Das wäre ja dann Französisch, Après moi le déluge. (lacht)

...dem Bösewicht noch eine letzte Weisheit mitgeben wollen?

Dem Bösewicht von Bond? (überlegt) «Versuch’s, das nächste Mal besser zu machen!»

Das ist gerade ein toller Schlusssatz. In diesem Sinne: Herr Baumgartner, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Mit Alfred Baumgartner sprach Jossi Schütt.

 

Wie man in einer der teuersten Städte der Welt überleben kann...

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