Martin Müller – das Interview.

Martin Müller – das Interview.

Im Railjet, irgendwo zwischen Innsbruck und Zürich, draussen finstere Nacht, im Zug belebte Atmosphäre. Wir, rund ein Dutzend Schüler und Geographielehrer Martin Müller, sind auf der Rückreise aus Bozen, wohin wir eine Exkursion unternommen haben. Martin Müller sitzt auf einem Gangsitz und isst Kuchen. Um ihn ranken sich, so muss man wissen, im Schulhaus so viele Legenden, dass er selbst fast schon zu einer lebenden geworden ist. Regelmässig liest man in Maturzeitungen, dass er der Lehrer sei, an den sich die SchülerInnen noch am besten erinnern würden in der Zukunft – und das hat etwas Wahres an sich: Die Geschichten zum Bau des Panamakanals oder über Tepuis, Tafelberge in Venezuela, vergisst man nicht so leicht und auch nicht die anregenden Gespräche auf den Gängen der HoPro, wo «Herr Müller» oft anzutreffen war. Vergangenen Februar ist er pensioniert worden: Im springenden punkt spricht er über seine Zeit an der HoPro, seine Vorbilder als Kind und äussert sich zu Gerüchten und Legenden um seine Person. Wozu diente zum Beispiel die mysteriöse Coca-Cola-Flasche im Schulzimmer? Hat er einmal in der HoPro übernachtet?

DER SPRINGENDE PUNKT: Herr Müller, Sind sie ein schweigsamer Mensch?

MARTIN MÜLLER: Eigentlich ja.

Wieso sind Sie dann Lehrer geworden?

Das ist eine gute Frage, ich wundere mich selber. Ich bin nicht jemand, der gerne ohne Inhalt viel sagt. Ich brauche ein inhaltliches Sprungbrett, das ich mag und das mir interessant scheint: In meinem Zusammenhang war das die Geographie. Ich habe dann das Gefühl, dass es sinnvoll ist, dieses Thema zu vermitteln. Aber ich rede nicht einfach über mich selber.

Sie reden nicht gerne über sich selber?

Nein. Man hört ja manchmal von Lehrern, die den Schülern ihre ganze Lebensgeschichte erzählen. Das kann ich nicht nachvollziehen.

Und wenn wir Sie jetzt ganz nett fragen, ob Sie uns Ihre Lebensgeschichte erzählen?

Dann bekommt ihr sie trotzdem nicht…

Was wäre etwas, das man nicht von Ihnen erwarten würde?

(lacht) Dass ich Laugengipfel gerne habe.

Also, das zählt nicht… Eine richtige Antwort, gerne.

(lacht nochmals) Dass ich lange gedacht habe, dass ich mit Computerjobs mein Leben verbringen würde – ich habe damals Aufträge für Auswertungen angenommen. Einfach, um Geld zu verdienen. Danach habe ich nochmals studieren und eine Doktorarbeit machen wollen, und das ist dann schief gegangen: Der Professor, mit dem ich alles schon abgemacht hatte, ist dummerweise gestorben. Ich musste neu überlegen. Der Professor starb übrigens einen wunderschönen Tod: Er führte gerade Journalisten über den Rhonegletscher, als ihm plötzlich schlecht wurde und er sich hinsetzen musste. Er hatte dann einen Herzinfarkt und ist gestorben. Mit seinem letzten Blick auf den Rhonegletscher.

Möchten Sie auch einmal so sterben?

Ja, wenn man sich das wünschen kann, möchte ich lieber so sterben.

In welchem Jahr sind Sie an die Hohe Promenade gekommen?

1992. Vor 27 Jahren. Es war damals nach den Sommerferien, als ich an die Schule gekommen bin. Anschliessend war gerade das Wahlverfahren. Vor den Herbstferien habe ich dann den Entscheid bekommen, dass man sich für mich entschieden hatte.

Wie alt waren Sie damals?

Ach, das weiss ich doch nicht mehr. [Es sind 38 Jahre, Anm. d. Red.]

Würden Sie…

… wieder Lehrer werden? Ja, wahrscheinlich schon. Vor meiner Zeit an der HoPro habe ich Stellvertretungen gemacht, und ich habe die wirklich extrem genossen. Ich hatte dabei keine einfachen Klassen – sie waren im schlimmsten Alter der Pubertät –, und trotzdem habe ich mich auf jede Stunde einfach gefreut. Mir war klar: Das ist mein Beruf!

Würden Sie sich als typischen Geographielehrer bezeichnen?

Was ist denn typisch für einen Geographielehrer? Es gibt ja das Klischee vom Geographen, der sich nur für Steine interessiert oder nur für Wetter. Das ist aber bei mir nicht so: Ich interessiere mich für alles, was im weitesten Sinne mit Natur, mit Menschen und mit unterschiedlichen Kulturen zu tun hat. Mein Problem ist eher, dass ich mich für zu viele Sachen interessiere.

Das ist eigentlich gut als Lehrer.

Ja, ich denke, es ist an sich eine recht gute Voraussetzung.

Gibt es ein Land, das Ihnen unsympathisch ist?

Im Moment sicher die USA. Und dann natürlich alle die Diktaturen.

Eine Sprache, die Ihnen unsympathisch ist?

Hmm…… Ich kann nicht unendliche viele Sprachen. Zum Beispiel über Chinesisch kann ich nicht viel sagen, weil ich es nicht kann.

Welche Sprachen können Sie denn sprechen?

Deutsch, Französisch, Englisch, ein bisschen Italienisch und was noch übrig ist vom Latein – die gängigen Sprachen.

Was ist Ihr liebster Grenzübergang?

Castasegna im Bergell.

Finden Sie Grenzen etwas Schönes?

Nein, eigentlich ist es etwas sehr Künstliches. Es gibt natürlich einleuchtende Grenzen, zum Beispiel Berggipfel. Vor einem Jahr sprach ich in der ersten Stunde mit meinen neuen Erstklässlern über Grenzen, dann streckt eine Schülerin auf und sagt: «Aber Sie, Grenzen sind doch etwas Blödes. Wir leben doch alle auf einer ganzen Welt!» Das fand ich wunderschön!

Was hören Sie gerne für Musik?

Etwa in eurem Alter habe ich den Blues entdeckt. Sobald Musik einen Blues-Aspekt enthält, gefällt sie mir.

Könne Sie Musiker nennen?

Ja, zum Beispiel Muddy Waters oder B. B. King… Und so weiter…

Wie wer wollten Sie als Kind sein?

Das wird irgendein Fussballspieler gewesen sein. Ich glaube Fritz Künzli, Mittelstürmer beim FCZ. Übrigens habe ich einmal Pelé live gesehen, als er in Zürich gespielt hat.

Ein Reiseziel, das Sie persönlich gerne noch besuchen würden?

Wenn ich den Mumm habe, so lange zu fliegen, würde ich gerne nochmals nach Australien oder Neuseeland gehen. Und ein Traum, den ich aber wahrscheinlich nicht mehr erfüllen werde: Auf den Kilimanjaro steigen.

Was sind die letzten drei Sachen, die Sie vor dem Zubettgehen machen?

(lacht) Ich glaube, Zähneputzen gehört schon noch dazu. Dann vielleicht das Licht löschen und dann vielleicht ins Bett steigen.

Was kochen Sie am besten?

Ich bin da nicht so gut.

Am besten vom Schlechten, in dem Fall?

Was ich sehr gern mag und was auch einfach ist: Gschwellti.

Wer oder was ist die Liebe Ihres Lebens?

Hä?! Geographie, natürlich – einfach! Das sage ich jetzt, damit ihr nicht mehr wisst (lacht)…

Können Sie sich vorstellen, Mönch zu werden?

Nein. Es gäbe nur schon ein technisches Problem: Ich bin nicht katholisch.

Wieso hatten Sie immer eine Coca-Cola-Flasche stehen im Geographiezimmer?

Das hat mit der Pflanze zu tun, die dort steht. Ich wollte einen Langzeitversuch machen, wie wenig Wasser sie braucht. Und in dieser Flasche war das Wasser zum Tränken – jetzt weiss ich gerade, was ich noch vergessen habe: Ich habe vergessen, sie das letzte Mal zu giessen. Jetzt wird sie sterben.

(Wir lachen) Vertrauen Sie den anderen Geographie-Lehrpersonen denn nicht?

Ich weiss es nicht… Das war ironisch. Schüler haben seinerzeit gefunden, sie möchten gerne eine Pflanze im Zimmer. Dann bin ich mit einer Abordnung in die Migros gegangen und wir haben diese Pflanze gekauft. Am Ende der zweiten Klasse haben sie dann gesagt, dass ich die Pflanze behalten dürfe. So ganz begeistert war ich nicht, aber immerhin ist sie relativ pflegeleicht, man muss sie nicht Gassi führen und so. Sie hat wirklich alles mitgemacht. Einmal ist sie sogar runtergefallen.

Wie viele Stunden haben Sie in einer Woche an der HoPro verbracht?

Das ist sehr unterschiedlich. Vor allem am Schluss der Semester musste ich jedes Wochenenden durcharbeiten und Prüfungen korrigieren. Das war Knochenarbeit. Schätzungsweise, hmmm… (lange Pause)… ich weiss es nicht.

Was ist die späteste Uhrzeit, zu welcher Sie je die HoPro verlassen haben?

Das war kurz vor 12 Uhr nachts. Ich habe dann schon immer noch nach Hause mögen. Es ist ein Irrtum, dass Schüler meinen, ich hätte in der HoPro übernachtet. Ich weiss von Kollegen, auch an anderen Schulen, die in der Schule übernachtet haben – aber ich nicht. Auf das habe ich immer geachtet.

Welche Legende, die im Schulhaus über Sie kursiert, ist Ihnen am liebsten?

(lacht) Wahrscheinlich dieser Mist, dass ich die ganze Zeit im Schulhaus übernachtet hätte. Aber das stimmt einfach nicht.

Was kennen Sie noch für andere Legenden über sich selber?

Hmm, ich weiss nicht.

Sollen wir Ihnen einige erzählen?

Ja.

Zum Beispiel die Legende, dass Sie sehr gerne Kinder-Bueno haben.

Ich habe das überhaupt nicht gern!

In einer Maturzeitung stand einmal, dass Sie zähneputzend in der Schule gesichtet worden seien.

Ich mag mich nicht erinnern. Also, es gibt Lehrer, die eine Zahnbürste dabeihaben und es gibt Lehrer – ich nenne jetzt natürlich keine Namen –, die vor dem Elternabend die Zähne putzen, aber ich mag mich nicht erinnern.

Es gibt das Gerücht, dass Sie noch bei Ihren Eltern wohnen.

Nein, das stimmt nicht.

Welchen Tipp fürs Leben würden Sie uns geben?

Bleibt neugierig, so wie ihr das jetzt seid, bleibt kritisch, so wie ihr das jetzt seid, und – manchmal vielleicht –: Ein bisschen leiser werden.

Haben Sie schon Pläne für die Zukunft, jetzt, da Sie nicht mehr an der Schule sind?

Ja, ich habe schon ganz viele Pläne. Ich möchte allerdings nicht darüber sprechen. Sobald man darüber spricht, ist man verpflichtet. Man muss sich allenfalls rechtfertigen, wenn das eine oder das andere schiefgeht. Ich habe meine Pläne auch niemand anderem erzählt.

Sind diese Pläne in der Schweiz oder in der Welt?

Grundsätzlich natürlich schon in der Welt, aber wahrscheinlich eher in der Schweiz, nur schon wegen dem Flug-Shaming.

Sind Sie wehmütig, jetzt die HoPro zu verlassen?

Ich hätte gerne die Arbeit mit den fünften Klassen und auch mit den zweiten Klassen zu Ende gebracht. Aus meiner persönlichen Sicht hätte das eine abgerundete Situation gegeben. Ich hätte dann das Gefühl gehabt, dass ich alles habe abschliessen können. Aber rechtlich gesehen ist es natürlich klar: Mit 65 wird man pensioniert. Es ist also nicht falsch, aber ich finde es schade.

Herr Müller, ganz herzlichen Dank für das Interview!

Das Gespräch führten Bettina Hürlimann, Mena Gujan und Jossi Schütt

Fotografie: Jossi Schütt

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