Warum es Feminismus immer noch braucht
Merkwürdig, denke ich mir. Ich blättere durch das alte Fotoalbum meines Vaters. Auf der ersten Seite stehen die Namen seiner Eltern: Der geborene Namen seiner Mutter, der Beruf, allerdings nur der seines Vaters. Doch meine Grossmutter hat genauso viel wie mein Grossvater gearbeitet, zusammen haben sie ein Geschäft geführt. Meine Grossmutter hat eine Ausbildung gemacht, geheiratet und drei Kinder bekommen, bevor sie abstimmen durfte. Das war vor 48 Jahren. Viel hat sich in dieser Zeit geändert. Aber noch nicht genug.
Warum muss eine Frau immer noch für gleichen Lohn am Arbeitsplatz kämpfen? Warum muss eine Frau sich für ihren zu langen Mutterschaftsurlaub entschuldigen? Warum muss ein Frauenstreik veranstaltet werden? Warum schreibe ich einen Artikel über Feminismus? Warum habe ich im Deutschunterricht noch kein einziges Buch einer Frau gelesen? Weil sich viel, aber noch zu wenig geändert hat.
Natürlich haben sich die Dinge zum Guten verändert. Frauen dürfen wählen gehen, es gibt immer mehr Frauen im Parlament und in leitenden Positionen. In der Schweiz wurde 1988 das neue Eherecht eingeführt, seit 1996 gibt es das Gleichstellungsgesetz und seit 2004 werden Gewalttaten in Ehe und Partnerschaft als Strafdelikt verfolgt. Dies hat die Gewalt gegen Frauen in der Schweiz stark verringert. Doch in vielen anderen Ländern ist die Gewalt gegen Frauen leider immer noch ein sehr grosses Problem. Um dies zu bessern, gibt es zum Beispiel die MeToo-Bewegung, den Frauenstreik und viele weitere bedeutungsvolle Aktionen von Feministinnen und Feministen. Solche Bewegungen sind enorm wichtig.
Was auch wichtig ist: Gleichberechtigung im Sprachgebrauch. Als Frau möchte ich in einem Text genauso angesprochen werden wie die Männer. Und deshalb ist es nicht schlimm, wenn der Text durch die Ausschreibung der männlichen und der weiblichen Form ein wenig länger ist oder das Gendersternchen im Weg steht. Vielleicht ist es umständlich, solche Veränderungen in der Sprache zu machen, aber für die Gleichberechtigung ist es wichtig. Denn kleine Dinge – wie das Gendersternchen – können einen grossen Unterschied machen. Übrigens ist dafür nicht einmal ein solches Gendersternchen nötig, an dessen Optik sich vielleicht einige stören mögen. Es genügt schon, einfach die weibliche Form eines Nomens zu brauchen, da im Wort die männliche Form immer schon vorhanden ist (zum Beispiel ist «Lehrer» in «Lehrerin» enthalten). Egal, wie man es macht, ich finde es wichtig, dass beide Geschlechter in einen Text involviert werden.
Und deshalb: Ja, es braucht den Feminismus noch. Leider. Wäre es nicht viel schöner, in einer Welt zu leben, in der es keine Gender-Diskussionen mehr gäbe und alle so akzeptiert würden, wie sie sind? Ja. Aber an diese Punkt sind wir noch nicht und deshalb muss weitergekämpft, protestiert und gemacht werden.