Der Zürcher Pendler
Text und Illustration: Lea Huber
Ich wache auf, öffne das Fenster, frische Morgenluft strömt mir entgegen und die ersten Sonnenstrahlen kitzeln mir das Gesicht. «Heute wird ein toller Tag», beschliesse ich und beschwingt mache ich mich auf den Weg in die Küche, um Frühstück zu essen. Etwas später verlasse ich gut gelaunt mein Zuhause und laufe gemütlich in Richtung Bahnhof.
Ein leichter Windstoss streift durch die Bäume und ich lausche dem Geräusch der leise raschelnden, bereits dezent herbstlich verfärbten Blätter. Eine ältere Frau kommt mir auf dem schmalen Weg entgegen. Höflich stehe ich auf die Seite, lächle ihr zu und grüsse. Doch nichts als ein grimmiges Murmeln kommt zurück. «Nicht so schlimm», denke ich mir, «sie hat bestimmt einfach nur einen schlechten Tag.» Mitleidig schaue ich dieser Frau hinterher, bevor ich unbekümmert weiterlaufe.
Schon fast den Bahnhof erreicht, rennt ein gestresst wirkender Mann mit Aktentasche in grauem Anzug an mir vorbei, dicht gefolgt von einem Fahrradfahrer, der mich um ein Haar umfährt. Beinahe seufze ich genervt auf, doch in letzter Sekunde kommt mir in den Sinn: «Nein, halt: Heute ist ja ein guter Tag!»
In den Zug eingestiegen, setzte ich mich in ein halbleeres Abteil. Vergnügt strecke ich die Beine aus und lasse meinen Blick durch den Zug schweifen. Irritiert stelle ich fest, dass ich überall, wo ich hinschaue, nur graue, nichts aussagende Gesichter sehe. Die Blicke dieser monotonen und beinahe schon unheimlich wirkenden Gesichter kleben auf Zeitungen, Smartphones, Tablets, oder, wenn es aufblickt, geistesabwesend auf dem grauen Boden; Hauptsache, keinen menschlichen Kontakt zulassen, scheint das Motto zu sein.
Etwas ernüchtert konzentriere ich mich deshalb auch wieder auf mich selbst. Als eine junge Frau sich in mein Abteil setzen will, ziehe ich sofort die Beine an und lächle ihr freundlich zu, doch nichts ausser einem tristen, müden Blick kommt zurück. Die Frau kramt, fast schon aggressiv wirkend, in ihrer schwarzen Lederhandtasche und zaubert nach einigen Minuten eine zerflederte Modezeitschrift aus ihrer Tasche. Als ich mich gerade noch Frage, wie es möglich war, ein Magazin in eine derart kleine Handtasche zu stopfen, fällt ihr eine PET-Flasche herunter. Fasziniert höre ich dem Geräusch der kullernden Flasche zu, bis sie schliesslich an der Wand eines anderen Abteils zum Stillstand kommt. Ein junger Mann hebt die Flasche auf und bringt sie der Frau in meinem Abteil. Diese erwidert ein halbherziges «Danke», verdreht genervt die Augen, und murmelt dem sich wieder in sein Abteil zurückziehenden Mann ein «Creep» nach.
Es war zwar keine wirklich positive Interaktion, aber trotzdem freue ich mich, dass immerhin ein menschlicher Kontakt in diesem unheimlich stillen Zug stattgefunden hat. Mein Blick schweift auf meine Uhr; noch fünf Minuten, und ich darf aussteigen. Kurz darauf nehme ich wieder eine Stimme wahr. Zuerst freue ich mich, dass ein menschliches Lebewesen es gewagt hat, diesen bedrohlich wirkenden Bann der Stille zu brechen, bis ich den Inhalt der Worte verstehe. Ein Mann in grauem Anzug beschwert sich gerade am Telefon über sein Leben, seine Kinder und seine Frau.
Ich zähle die Sekunden, bis der Zug endlich mit einigem Rütteln zum Stehen kommt. Ich stehe auf, verabschiede mich von niemandem und steige gelangweilt die Zugtreppen hinunter. Ein kleiner Junge lächelt mich an und grüsst; ich schaue mit einem grauen und energielosen Blick durch ihn hindurch und erwidere nichts. Einer Frau vor mir gleitet die volle Einkaufstüte aus der Hand. Genervt steige ich über etliche Packungen Reis, Zucker und Salz und lasse ein genervtes Stöhnen von mir. In diesem Moment realisiere ich; nun gehöre ich auch dazu. Nun bin auch ich ein echter Zürcher Pendler.

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