Der Alltag eines Revolutionären in Zürich

Der Alltag eines Revolutionären in Zürich

von Sophia Lussi


Im Februar 1916 zieht ein Mann namens Wladimir Uljanow mit seiner Frau von Bern nach Zürich. Sie finden in einem untervermieteten Zimmer an der Zürcher Spiegelgasse 14 Unterkunft. Etwas mehr als ein Jahr bleibt dieses Paar in Zürich, bis es am 9. April 1917 eine Reise nach Russland antritt. Die Schweiz nimmt wenig Kenntnis von der Ausreise und interessiert sich auch nicht für diesen scheinbar harmlosen Bürger. Erst im November 1917 erscheint eine Titelgeschichte in der Schweizer Illustrierten über Wladimir Uljanow. Denn in den Monaten nach seiner Ausreise hat sich sein Leben verändert und er ist nun bekannt als der russische Revolutionsführer Lenin.

Wenige Wochen nach Kriegsausbruch im Jahre 1914 reist Lenin mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter in die Schweiz ein. Sie leben zwei Jahre in beschiedenen Verhältnissen in Bern, ziehen jedoch darauf nach Zürich. Seine Frau schreibt, dass sie in Bern in einem «kleinbürgerlichen demokratischen Käfig gefangen» gewesen seien und sich in Zürich den Kontakt mit einer «revolutionär gesinnten Jugend aus verschiedenen Ländern» erhofften. Sie leben an der Spiegelgasse 14 und Lenin besucht viele Zürcher Bibliotheken, während er an seinem Buch Der Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus schreibt. Um Geld zu verdienen, arbeitet er im heutigen Sozialarchiv und hält politische Vorträge, unter anderem im Volkshaus und im heutigen Neumarkt-Theater, das damals noch das Gewerkschaftshaus «Eintracht» ist. Wenn die Bibliotheken geschlossen sind, gehen er und seine Frau oft auf den Zürichberg, wo sie eine Lieblingsstelle im Gras gefunden haben, um in aller Ruhe lesen zu können.

Am Abend trifft sich Lenin gelegentlich mit ein paar Sympathisanten zu Diskussionsrunden. Seine Frau schreibt, dass Lenin in der Schweiz versuche, seine Arbeit in «internationalem Massstab in Gang zu bringen», doch nur zu Beginn kommen einige Schweizer an seine Vorträge, dann sind nur noch «Polen und Russen» anwesend. Historiker meinen heute, dass Lenin keinen grossen Einfluss auf die Schweiz gehabt habe, sondern, dass eher umgekehrt die Schweiz ein Ort gewesen sei, an dem Lenin viele Ideen gesammelt habe. Weil die Schweiz im Ersten Weltkrieg neutral ist, benutzt er auch keine falsche Identität und stellt unter seinem bürgerlichen Namen am 18. April 1916 ein Gesuch für eine Aufenthaltsbewilligung. Als Teil dieses Prozesses muss er einen «Fragebogen für Deserteure und Refraktäre (Dienstverweigerer)» ausfüllen, in dem er abstreitet, ein Deserteur oder ein Refraktär zu sein und sich als «politischer Emigrant seit der Revolution von 1905» bezeichnet. Zu dieser Zeit sind viele Exilrussen auf der ganzen Welt verstreut und Lenin korrespondiert oft mit diesen, während er in Zürich lebt. Revolutionär Gesinnte können nicht in ihre Heimat zurückkehren, solange der Zar noch an der Macht ist. Als der Zar im März 1917 gestürzt und eine bürgerliche Regierung geschaffen wird, treten rund 500 Revolutionäre die Heimreise an.

Am 9. April besteigt auch Lenin mit seiner Frau und 31 Exilrussen im Zürcher Hauptbahnhof zwei reservierte Wagen der dritten Klasse eines «gewöhnlichen Bummelzugs» und reist über Deutschland, Schweden und Finnland nach St. Petersburg, wie die internationale Presse in den Jahren danach berichtet. Erst 1919 befragt das Schweizer Aussendepartement die Chefs des Nachrichtendienstes, des Zolls und des Verkehrsdepartements, wie «diese Reise organisiert» worden sei. Der Nachrichtendienst antwortet, er hätte «keinerlei Kenntnis» von dieser Ausreise genommen und die SBB sagen, dass sie «nichts damit zu tun» gehabt hätten. Nur der Zoll meldet, dass Lenin mit «einer grösseren Zahl russischer Begleitmannschaft» ausgereist sei.

Diese Ausreise ist jedoch nicht offiziell registriert und nur ihr Proviant ist kontrolliert worden. Aus diesen vagen Aussagen ist klar ersichtlich, dass Lenin in der Schweiz nur als simpler Bürger und nicht als zukünftiger Herrscher Russlands angesehen worden ist. Auch wird erst im Jahre 1928, mehr als ein Jahrzehnt nach Lenins Abreise, nach einem Wahlerfolg der Linken eine Gedenktafel an sein Wohnhaus, die Spiegelgasse 14, gehängt. Der Eigentümer des Hauses beklagt sich jedoch, dass durch die Tafel sein Haus einer Wertminderung erleidet und es muss über eine Entschädigung verhandelt werden. Der Ausgang dieser Verhandlungen ist unbekannt.

 
Anzeige.

Anzeige.

 

Das Jubiläumsjahr der russischen Revolution geht langsam zu Ende und wie sein Haus in Zürich, das im Oktober 1971 abgerissen werden musste, weil es in so schlechtem Zustand war, verschwindet Lenin in den Geschichtsbücher. Doch was auch immer man von ihm hält, nun weiss man, dass auch er gerne mit einem Stück Schweizer Schokolade in der Sonne lag.

Quellen:

https://www.nzz.ch/zuerich/wo-lenin-in-zuerich-spuren-hinterlassen-hat-lenin-und-die-friedlichen-spiesser-ld.146969

https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/als-lenin-unbemerkt-die-schweiz-verliess/story/18391122

 

Cousins neueste Filmempfehlungen

Cousins neueste Filmempfehlungen

Eine Einführung zu Rock

Eine Einführung zu Rock