Es fetzt.
Foto: The Corner
292-mal sind die Beatles in der rauchigen Rock-‘n’-Roll-Gruft des Liverpooler Cavern Club aufgetreten, bevor die vier Pilzköpfe, damals noch brav mit Krawatte und Stiefeln gekleidet, die Welt mit Hits wie I Want To Hold Your Hand eroberten. Es ist also kein schlechtes Vorzeichen für eine Band, ihre Karriere in einem Untergeschoss zu starten.
So steigt man auch gute hundert Stufen in hinunter in den Keller, der The Corner als Bandraum dient. The Corner? Das ist eine Band und die hat sich vor etwa einem Jahr aus drei Fünftklässlern gebildet. Der Name kommt nicht von ungefähr, er setzt sich zusammen aus den Nachnamen der drei Bandmitglieder: Arno Covas, Jan Vornholt und David Keller.
Ich besuche die Band an einem warmen Mittwochnachmittag im späten August, direkt nach der Schule. Unterwegs zum Bandraum im Zürcher Seefeld hat man noch schnell Pizza geholt, die jetzt auf dem Sofa des Bandraums, welches auch schon bessere Tag gesehen haben mag, verspiesen wird. Es ist kein grosser Bandraum, auch nicht besonders hoch. Die Betonwände sind ausgekleidet mit senfgelben Schaumstoff-Schalldämpfern, am Boden liegen rote Teppiche, an der Decke hängen zwei Neonröhren. Dazu erzeugen ebendieses Sofa, ein lärmender Kühlschrank und einige rote Stühle das gewisse Retro-Gefühl, für welches andere Stunden auf Photoshop verschwenden, ohne es dann doch hinzukriegen. Die Instrumente – ein Schlagzeug und ein altes Piano – komplettieren die Ausstattung dieses Bandraums zusammen mit unzähligen Verstärkern und mysteriösen schwarzen Schachteln, die sich allerdings später nur als harmlose Instrumentenkoffer herausstellen sollten. Ich frage nach den Anfängen der Band. Zuerst war es ein Witz, beginnt Arno, der Schlagzeuger, doch dann wurde es schnell konkreter. David (der Sänger, Bassist und Saxophonist) hat schon länger von diesem Bandraum gewusst, er gehört seinem Vater. Jan, der Gitarrist, meint, es habe dann einfach gepasst. Auf jeden Fall war die Ausrüstung am Anfang ziemlich rudimentär. Anstelle einer elektrischen Gitarre sass Jan jeweils auf einem Barhocker und spielte seine Harmonien mit der akustischen Gitarre in ein Mikrofon. Doch aus diesen Schuhen sind The Corner draussen. Mittlerweile drischt Jan seine Gitarrensoli mit einer Gibson Les Paul in den Raum. Und das kann laut werden. So laut sogar, dass es erst kürzlich den Verstärker geputzt hat bei Smells Like Teen Spirit von Nirvana (ein Lied übrigens, das die Band nach diesem Vorfall stillschweigend aus dem Repertoire gekippt hat). Die Les Paul – für die musikgeschichtlich weniger bewanderten unter uns: – ist eine Gitarre, die nicht nur der Rolls-Royce, sondern wohl auch gleichzeitig der Ferrari, der Lamborghini, der Aston Martin und der Bugatti unter den Gitarren ist. Bei dieser Gelegenheit darf ich das Prachtstück gleich einmal sehen. Wie ein Schatz in einer Schatztruhe ist die Gitarre im Gitarrenkoffer verstaut, zwei Schlösser müssen geöffnet werden, bis der Schatz ausgepackt ist und ihre spiegelglatte Oberfläche im Licht der Neonröhre aufblitzt.
Nicht alle Instrumente sind so auserlesen wie die Gitarre, so sei das Schlagzeug ein veritabler Scheisshaufen, sagt Arno, während er den Schlagzeughocker verstellt. Nur David werkelt noch am Mikrofon herum, sonst ist alles vorbereitet für die Jam-Session.
Zuerst spielt sich The Corner ein – ich frage mich, ob sich da eine gewisse Nervosität breitmacht aufgrund meines Publikums – und tatsächlich: Der erste Titel, Can’t Buy Me Love von den Beatles, ist noch ein wenig holprig. Es ist bei weitem nicht der einzige Beatles-Song im Repertoire der Band: Come Together, All My Loving, Eight Days a Week haben The Corner alle schon gespielt, und She Loves You zumindest einmal tangiert. So gehören die Beatles auch zu den grossen Vorbildern von The Corner, zusammen mit Nirvana und The Police.
Mit Nirvana geht es gleich weiter: Der düsterere Neunzigerjahre-Klang von Come As You Are unterscheidet sich merklich vom fröhlichen Beatles-Geschummer zuvor. Das wiederum setzt Davids Stimme zu, er ist erkältet, unzufrieden, dass die Töne nicht so kommen, wie er will. Es folgen darauf nochmals einige Rocknummern: Das schonmal erwähnte All My Loving von den ebenfalls schonmal erwähnten Beatles, Valerie von The Zutons und Another Brick In The Wall von Pink Floyd.
Schliesslich öffnet David einer der schwarzen Koffer und packt ein Saxophon aus. Die Band spielt jetzt – neben Rock – ihre andere Spezialitäten: Bossa Nova und Samba Jazz, ein Stil, der nicht nur die Umkehrung des berühmten Albums Jazz Samba von Stan Getz und Charlie Byrd ist, sondern auch das Terrain, auf welchem sich The Corner nach eigenen Angaben (die ich bezeugen kann) besonders wohlfühlt. Die beiden Jazz-Klassiker Black Orpheus und The Girl from Ipanema lassen mich gedanklich abschweifen und zu den sanften Wellen Rio de Janeiros reisen.

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Zum Schluss spielt The Corner noch Fragmente der ersten Eigenkomposition, welche die Band im Rahmen des Musischen Projekts (MP) gerade schreibt. Diese Eigenkomposition besteht für den Moment erst aus Strophe und Refrain, doch bis zur grossen Abschlusspräsentation des Musischen Projekts im Februar ist ja auch noch Zeit... Diejenigen Teile, die schon bestehen, sind aber wirklich gut: Es ist eine Mischung aus leichten Beatles-Harmonien und schwerem Neunzigerjahre-Gitarrensound. Zwei Musikstile, die auf den ersten Blick schwer unter einen Hut zu kriegen sein mögen, aber welche die Band mit einem gewissen Etwas gekonnt verbindet, das ich keinem der beiden Stile zurechnen kann. In einem Wort: Es fetzt.
Drei Stunden Jam-Session sind schon wie im Fluge dahingerauscht und beim Zusammenpacken frage ich nach der Zukunft der Band: Eigene Kompositionen herausbringen und sogar ein Album gestalten, antworten David und Jan zuerst noch demütig, aber es gibt da auch weniger realistische Ziele: WM-Song 2022, Ed Sheeran als eigene Vorband, und so weiter, und so fort. In dieser Hinsicht fallen mir die frühen Interviews der Beatles ein, die jeweils vor den Augen unzähliger Millionen an Fernsehzuschauern ihre Scherze rissen.
Und vielleicht – wer weiss, was die Zukunft alles bringt – spricht man in Jahrzehnten nochmals in einem anderen Zusammenhang von Kellern; nämlich als dieser Ort, an welchem The Corner ihre ersten musikalischen Schritte tätigten...