Die besten Bücher meiner Gymizeit – Plätze 10-01
Über 40 Bücher habe ich in meiner Gymnasialzeit gelesen. Höchste Zeit, eine Rangliste zu machen. Welche bleiben mir am besten in Erinnerung, welche waren eher eine Qual?
Hinweis: Die Rangliste erfolgte rein nach persönlichem Geschmack. Es kann sein, dass die Rangierung gewisser Bücher bei den Leserinnen und Leser Kopfschütteln auslöst. Sollte das der Fall sein, freuen wir uns über einen Leserkommentar!
Zweiter Hinweis: Die Einteilung von Büchern in eine Rangliste ist natürlich immer eine heikle Angelegenheit. Kann man wirklich begründen, weshalb ein Buch jetzt auf Platz 27 und nicht auf Platz 26 liegt? Wohl schwer. Darum ist diese Rangliste eher als ein Kontinuum zu verstehen: Je höher die Bücher platziert, desto besser haben sie mir gefallen.
10. Das Erdbeben in Chili/Die Marquise von O. (Heinrich von Kleist, Deutsch)

Die Marquise von O.
Eigentlich zwei separate Erzählungen, doch zusammengefasst in einem Reclam-Band. Beim Erdbeben ist klar, wovon es mitunter handelt, bei der Marquise geht es – Überraschung – um ein Marquise. Diese Marquise, die verwitwet bei ihrer Familie lebt, wird schwanger, hat aber keine Ahnung, wer der Vater des Kindes sein könnte. Für eine Frau in den damaligen gesellschaftlichen Umständen ist das der Super-GAU. Von beiden Erzählungen bleibt mir vor allem Kleists Schreibstil in Erinnerung. «Göttlich», nannte ihn meine Lehrerin damals, und so kann man es durchaus sehen. «Göttlich» – oder aber «dämonisch». Auf jeden Fall nicht von dieser Welt. Wie Kleist so viel sagen kann, ohne überhaupt etwas zu sagen, ist bewundernswert – und die Handlung zudem noch äusserst packend.
9. Jugend ohne Gott (Ödön von Horváth, Deutsch)

Ödön von Horváth
«Es war der T.» Dieser Satz wird Lesern dieses Buches nicht mehr aus dem Gedächtnis gehen. Ein Lehrer unterrichtet in Nazi-Deutschland – und merkt, wie die Schüler immer mehr von der nationalsozialistischen Propaganda eingenommen werden und jederzeit bereit sind, den anderen zu denunzieren. Der Lehrer ist kein Nazi-Sympathisant, aber zu schwach, um Widerstand zu leisten. Als auf einem Schullager, das er betreut, plötzlich ein Schüler tot aufgefunden wird, überschlagen sich die Dinge. Dieses Buch ist ein Muss. Liest man es, wird man unweigerlich mit der Frage konfrontiert: «Was hätte ich getan?» Wie kann man in einer Diktatur Haltung bewahren, ohne gleichzeitig sein Leben zu riskieren? Liegt die einzige Lösung darin, ein Mitläufer zu sein? Diese und viele weitere Fragen wirft das Buch auf, und es lässt einen nicht mehr los. Es liest sich flüssig, ohne sprachlich trivial zu werden, und vermag die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten.
8. König Ödipus (Sophokles, Deutsch)

Antike griechische Szenerie.
Um dieses Drama kommt wohl niemand am Gymnasium herum. Doch wieso sollte man überhaupt? Schliesslich ist die Geschichte des Ödipus derart interessant und wichtig für alle späteren Werke der Literatur, dass die Lektüre des Ödipus eine grosse Bereicherung darstellt. Zwischen scheinbar klobigen Versen verstecken sich immer wieder Perlen; in wenigen Worten wird gesagt, was man in ganzen Abhandlungen nicht besser ausdrücken könnte. Die Beschäftigung mit dem tragischen Schicksal des Ödipus bewegte mich sehr und verändert noch bis heute meinen Blick auf viele Phänomene, die ich im Alltag oder in der Kultur antreffe. Natürlich: Man muss den Zugang zu diesem Werk, das in auf den ersten Blick einschüchternden Versen geschrieben ist, erst finden. Aber hat man ihn gefunden, kann man sich dem König Ödipus nicht mehr entziehen.
7. Die Schachnovelle (Stefan Zweig, Deutsch)

Das Schachspiel – das Hauptmotiv in der «Schachnovelle».
Auf einem Dampfer nach Buenos Aires findet eine Schachpartie statt. Auf der einen Seite der Schachweltmeister Czentovic, auf der anderen der mysteriöse Dr. B, der scheinbar keine Qualifikation für das Schachspiel hat. Die Partie endet unentschieden. Trotzdem möchte Dr. B. nicht mehr weiterspielen. Weshalb?, fragt sich der Ich-Erzähler und dringt in B.s dunkle Vergangenheit vor. Die Schachnovelle ist unvergesslich. Die Passagen sind teilweise zum Wohlfühlen, teilweise zum Schaudern. Die Novelle offenbart einen tiefen Einblick in die menschliche Seele: wie tief ihre Abgründe sind, zu welcher Grausamkeit sie fähig ist, und wie vertrackt sie mit Erinnerungen umgeht.
6. Romulus der Grosse (Friedrich Dürrenmatt, Deutsch)

Dramatiker Friedrich Dürrenmatt.
Meine Beschäftigung mit dieser dürrenmattschen Tragikomödie war intensiv. Zuerst hatte ich sie privat gelesen, kurz darauf in der Schule, und schliesslich wurde sie parallel dazu auch noch im Schultheater aufgeführt, wo ich sie zweimal schauen gegangen bin. Vielleicht habe ich dadurch die verschiedenen Facetten des Stücks – die tragischen und die komischen – besser erfassen können. Auf jeden Fall ist man vom Drama schon ab der ersten Szene eingenommen, als Spurius Titus Mamma (sic!) auf die Bühne tritt. Es liefert neben bester Unterhaltung auch schöne Zitate («Was in meinem Hause klassisches Latein ist, bestimme immer noch ich.»)
5. Disgrace (John M. Coetzee, Englisch)

«Disgrace»: verfilmt mit John Malkovich und Jessica Haines
Dieser moderne Klassiker stand erst in der sechsten Klasse an – aus gutem Grund! Er dreht sich um Themen wie Vergewaltigung, Rassismus, Erotik, Macht – und bevor Du jetzt meinen Literaturgeschmack in Zweifel ziehst, lass mich zuerst etwas erklären… Der Roman spielt im Südafrika nach der Apartheid, also gewissermassen nach der Diktatur der weissen Minderheit über die überwältigend viel grössere schwarze Mehrheit. Der (weisse) Literaturprofessor David Lurie wird von der Universität geschmissen, weil er einer Schülerin nachgestellt hat. Er zieht aus Kapstadt weg, aufs Land. Es beginnt eine interessante Studie über Macht und Zeitenwandel, aber auch über das Wesen der Kunst und der Liebe: Wie die alten Herrscher unaufhaltsam von neuen Herrschern abgelöst werden und wie diese neuen Herrscher die alten behandeln; wie die gefallenen Herrscher mit ihrem Machtverlust umgehen; wie man als Individuum in einem feindlichen Umfeld bestehen kann. Das 1999 geschriebene Buch nimmt in gewissem Sinne Themen vorweg, die heute brennend aktuell sind («MeToo», Rassismus, Machtausübung, der langsame Verlust der Vormachtstellung der «alten weissen Männer»), und erlaubt dadurch einen erhellenden, nicht nur angenehmen Blick in die Gegenwart.
4. Homo Faber (Max Frisch, Deutsch)

Sam Shepard als Walter Faber vor der Super-Constellation in Houston, Texas.
Bei sogenannten «Schulbuchklassikern» passiert es nicht oft, dass diese sowohl tiefgründig, brandaktuell, sprachlich und stilistisch hochinteressant als auch überraschend, leserfreundlich und packend sind. Bei Homo Faber ist das aber genau so. Homo Faber ist zum einen ein ungeheuer dichtes Gewebe, das man wie ein Archäologe stundenlang entziffern kann, wenn man will, und hat zum anderen eine Handlung, die niemanden kalt lässt. Wir verfolgen den technikgläubigen Ingenieur Walter Faber, der bei Reisen durch die ganze Welt – vom Urwald in Guatemala über New York und Paris bis Delphi in Griechenland – feststellen muss, wie er dem Schicksal, der Astrologie und vielleicht auch den antiken Göttern immer mehr ausgeliefert ist. Wunderbar sind die Stellen, die in Zürich spielen – jedenfalls ich denke immer wieder an sie zurück, wenn ich einen der Handlungsorte in der Stadt passiere.
3. Un secret (Philippe Grimbert, Französisch)

Eine unerwartete Entdeckung von grosser poetischer Kraft, die umso dringlicher und einprägsamer ist, da sie eine wahre Geschichte erzählt. Das Buch lässt sich in drei Zeitebenen einteilen. Es geht um den eher schwächlichen Jungen Philippe, der spürt, wie er die Erwartungen seiner sportlichen Eltern nicht erfüllen kann. Der Grund dafür liegt tief: Die Eltern sind traumatisiert, weil ihnen während des Zweiten Weltkriegs etwas Schreckliches widerfahren ist. Immer mehr kommt Philippe dem Familiengeheimnis auf die Spur. Es beschäftigt ihn so sehr, dass er schliesslich Psychologe wird – um zu verstehen, was seine Eltern durchgemacht haben. Im Alter blickt er zurück und schreibt seine Geschichte auf. Un secret ist wirklich eine Wucht. Es ist spannend, bewegend, stimmt nachdenklich, und ist dabei voller sprachlicher Perlen, ohne kitschig zu sein. Ein Muss.
2. Der Richter und sein Henker (Friedrich Dürrenmatt, Deutsch)

Gastmann und Kommissär Bärlach.
Noch so ein Buch, um das man im Gymi nicht herumkommt. Es scheint auch wie geschaffen für die Lektüre in der Schule. Als Krimi ist es stets packend und spannend, gleichzeitig aber auch mit tiefgründigen und Dürrenmatt-typischen humoristischen Stellen ausgestattet. Der Assistent des alten Kommissärs Bärlach wird tot aufgefunden – er hatte über eine mysteriöse Party ermittelt, an der, von Nationalräten bis Wirtschaftsführern, alles, was Rang und Namen hat, teilgenommen hat. Der Veranstalter der Party heisst Gastmann – und er und Bärlach haben eine gemeinsame Vorgeschichte. Der Roman ist kurzweilig, erhellend und witzig – kurz: ein perfektes Lesevergnügen.
1. Effi Briest (Theodor Fontane, Deutsch)

Landschaft aus Brandenburg.
Sobald ein Roman zu den «Klassikern der Weltliteratur» zählt, älter als 100 Jahre ist und mehr als 300 Reclam-Seiten hat, sind seine Vorzeichen denkbar schlecht, von der Schülerschaft geschätzt zu werden. Das ist bei Effi Briest nicht anders. Zu Unrecht!, meine ich, und erlaube mir darum, eine Lanze zu brechen für das Buch. Erster Grund, weshalb dieses Buch auf meinem Platz eins steht: Natürlich die Handlung. Die siebzehnjährige Effi wird von ihrer Mutter an den mehr als doppelt so alten Geert von Instetten verquantet. Brisanterweise ist dieser Geert niemand anderes als der Ex-Lover der Mutter. Er ist zudem ein aufstrebender Lokalpolitiker im Preussen zu Zeiten Bismarcks, der für seine Karriere natürlich auf eine ansehnliche Ehegattin angewiesen, und ein furchtbarer Langweiler. Schon bald fühlt sich Effi unwohl im Hause Instetten: Sie bricht aus, ihr Drama nimmt seinen Lauf. Zweiter Grund: Die Handlungsorte. Effi Briest spielt in Brandenburg, Berlin und an der Ostsee. Die Landschaftsbeschreibungen sind wunderschön. Ob das jetzt das sterile Ostseebad Kessin, das blühende Berlin oder das strahlende Rügen ist: Alle Orte haben etwas Heimeliges – am liebsten würde man selber nach Hohen-Cremmen ziehen und im Schloss der Familie Briest wohnen. Dritter Grund: Die Sprache. Effi Briest bietet da nämlich für alle etwas. Diejenigen, die gerne innehalten, über einen Satz nachdenken und ihn entschlüsseln wollen, kommen genau so auf ihre Kosten wie die Schnellleser, die den Lesesog nicht unterbrechen wollen. Es gäbe auch noch einen vierten Grund, weshalb dieses Buch auf Platz eins steht, und einen fünften und einen sechsten und noch viele mehr. Doch der Platz reicht nur noch, um festzuhalten: Ein wunderbares Buch.