«Ich war sehr froh, als meine Zeit an der HoPro vorüber war»
von Jossi Schütt
Auch unter normalen Umständen hätte ich die Kulturjournalistin und ehemalige HoPro-Schülerin Sacha Verna wohl kaum persönlich zum Gespräch treffen können. Aus dem einfachen Grund: Sie lebt und arbeitet auf der anderen Seite des «grossen Teichs», in New York. Wir führen dieses Interview darum per E-Mail – Ende April, auf dem Höhepunkt des Corona-Ausbruchs in New York. Wie gelangte Sacha Verna vom beschaulichen Promenadenhügel in die hektische Millionenstadt New York? Wie denkt sie an ihre Zeit an der Schule zurück? Worin besteht ihre Arbeit heute? Und, schliesslich: Wie erlebt sie die Pandemie im Epizentrum New York?
DER SPRINGENDE PUNKT: Du lebst in New York, das von der Corona-Pandemie stark betroffen ist... Wie geht es Dir momentan?
SACHA VERNA: Ich habe das Gefühl, ohne Tauchflasche auf den Grund des Ozeans zu sinken. New York ist von einer Rückkehr zu irgendeiner Form von Normalität noch so weit entfernt, dass sich die Zeit in einen undurchdringlichen, geschmack- und farblosen Brei verwandelt hat.
Wie blicken die New Yorker auf die Pandemie?
Mit Angst, verzweifelt und zermürbt. Inzwischen ist jedem klar geworden, wie gefährlich dieses Virus ist. Die Leichenberge häufen sich – in den weissen Kühllastern, die neben den Krankenhäusern stehen, auf den Piers, die zu Leichenhallen umfunktioniert worden sind, weil die Bestattungsunternehmer komplett überlastet sind, und auf Hart Island, einer Insel nördlich der Bronx, wo Massengräber für Tote ohne Angehörige ausgehoben werden. Niemand wagt sich mehr ohne Maske auf die Strasse. Wer es trotzdem tut, gibt sich als gemeingefährlich zu erkennen und wird beschimpft.
Gibt es Unterschiede zwischen der Reaktion der New Yorker und der Schweizer?
Das ist schwer zu sagen. Ich bin so obsessiv mit dem beschäftigt, was sich hier abspielt, dass ich nur noch am Rand die Energie dafür aufbringe, zu verfolgen, wie die Leute in der Schweiz mit der Pandemie umgehen. Ich glaube, die beiden Situationen lassen sich einfach nicht vergleichen.
Inwiefern beeinträchtigt die Pandemie Deine Arbeit?
Sehr stark. Ich arbeite als Kulturkorrespondentin und bespreche Ausstellungen, besuche Veranstaltungen, treffe Autoren. Jetzt sind die Museen geschlossen, sämtliche Veranstaltungen abgesagt, und Schriftsteller haben sich wie alle anderen auch in ihren Stuben verbarrikadiert. Interviews finden, wenn überhaupt, via Skype statt, aber das ist natürlich nicht dasselbe wie eine richtige Begegnung.
Du besuchtest auch die HoPro... In welchem Zeitraum war das?
1986 bis 1992.
Mit welchen Gefühlen denkst Du heute zurück?
Um es diplomatisch auszudrücken: Ich war sehr froh, als meine Zeit dort vorüber war.
Oh… Weshalb die negativen Erinnerungen?
Dafür gibt es verschiedene Gründe, aber wenn Du einverstanden bist, lieber Jossi, würde ich diese lieber nicht vertiefen.
Die HoPro gilt heute als elitäre Schule bzw. hat den Ruf, vor allem von Schüler von der Goldküste zu haben. War das damals auch schon so?
Ja – und auch wenn nicht alle von der goldenen Küste stammten, waren sicher viele mit goldenen Löffelchen aufgewachsen.
Was war Dein Lieblingsfach?
Alle Sprachen.
In welchem Fach warst Du besonders schlecht?
In jedem, in dem Zahlen eine Rolle spielten.
Welche Lehrpersonen hast Du noch in Erinnerung?
Eigentlich alle. Manche von ihnen sind inzwischen vermutlich schon im Himmel. Ich hoffe, sie haben eine schöne Wolke gefunden und lassen mich auch weiterhin in Ruhe.
Magst Du Dich noch an Deine Maturprüfungen, Deinen Maturstreich und Deine Maturfeier erinnern?
Beim vierstündigen Aufsatzschreiben entdeckte ich einen Wurm in einer Zwetschge, die ich mitgebracht hatte und konnte darauf an nichts mehr anderes denken. Die mündliche Mathematikprüfung brach der Beisitzende aus Mitleid mit mir nach zehn Minuten ab. An den Maturstreich kann ich mich nicht erinnern, und der Maturfeier entfloh ich, sobald ich mein Zeugnis in der Hand hatte.
Hast Du noch Kontakt zu ehemaligen MitschülerInnen?
Kaum.
Was war das absurdeste Erlebnis Deiner Schulzeit?
Ich fand jeden Tag absurd: So früh aufstehen, so viele Stunden in einem Kasten verbringen, so viele Energie für Dinge aufwenden, die einen nicht im Geringsten interessierten. Keine Ahnung, wie ich das ausgehalten habe.
Welches Buch, das Du während Deiner Schulzeit lasest, hinterliess den prägendsten Eindruck auf Dich?
Mich haben eher Bücher geprägt, die ich unabhängig vom Lehrplan las. Eine Kiste voller vergilbter Schundliteratur, die ich von einer alten Nachbarin erbte, sämtlichen Maigret-Krimis von Georges Simenon über Klassiker wie Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz» bis hin zu Bertolt Brechts gesammelten Stücken.
Du arbeitest als Kulturjournalistin in New York. Was ist das Beste an Deinem Job?
New York selber und die Tatsache, dass sich nie etwas wiederholt.
Wusstest Du schon als Schülerin, dass Du einmal Journalistin werden wolltest?
Nein. Ich wollte zuerst Archäologin, dann Kriminologin werden. Dann dachte ich, ich will den Rest meines Lebens mit Lesen verbringen und studierte Germanistik. Das Schreiben gesellte sich einfach dazu.
Du führtest schon Interviews mit zahlreichen Schriftstellern, Künstlern usw. Welches ist Dir noch am liebsten in Erinnerung?
Sicher meine Gespräche mit Philip Roth. Die waren immer zugleich todernst und ungeheuer komisch – genauso wie er auch. Und vom Geschmack der Pfirsiche, die er mir im Sommer jeweils aus seinem Garten in Connecticut schenkte, träume ich noch heute. Ausserdem mein Treffen mit Kurt Vonnegut. Er trank eine Virgin Mary, war ein Zyniker, der die Welt liebte und gab mir zum Schluss eine Zeichnung mit einem kleinen Kreis, in dem sich ein X befand. Ein «asshole», wie er mir erklärte, ein Arschloch. Wobei er mir freundlicherweise versicherte, dass er damit nicht mich meinte.
Welche Person war ein schwieriger Interviewpartner?
Susan Sontag. Sie hat mich beinahe aus ihrer Wohnung geschmissen, weil ich sie auf einen Widerspruch in ihren Aussagen hinzuweisen wagte. Sie war von ihrer eigenen Grossartigkeit eben sehr überzeugt – natürlich bis zu einem gewissen Grad zu Recht. Sie war eine wirklich brillante Denkerin. Aber auch eine grottenschlechte Romanautorin.
Welche Interviewpartner schienen Dir die spannendsten?
Spannend sind die, die während eines Interviews tatsächlich noch denken. Anders als zum Beispiel John Irving. Der war zwar sehr nett, beantwortete aber hauptsächlich Fragen, die er sich rhetorisch selber stellte. Don DeLillo war beeindruckend, weil er absolut druckreif sprach. Keine angefangenen Sätze, keine halbfertigen Gedanken, sondern, nach einem Moment des Überlegens, knappe, klare, kluge Formulierungen.
Von der beschaulichen Hohen Promenade in die Millionenstadt New York: Wie sah Dein Weg nach der Matur aus?
Ich studierte wie gesagt Germanistik an der Universität Zürich und begann während des Studiums als Journalistin zu arbeiten. Ich machte als freie Journalistin weiter und zog dann nach New York.
Weshalb gerade New York?
Ich kenne New York schon seit meiner Kindheit. Meine Eltern sind Galeristen und reisten der der Kunst und der Künstler wegen immer wieder hierher. Dabei nahmen sie mich oft mit. Als ich einmal einen Sommer hier verbrachte, fragte mich eine Freundin halb im Spass, warum ich nicht einfach umziehe. Ich dachte: Ja, warum eigentlich nicht, und packte meine Koffer. Das war 2001.
Vor oder nach dem 11. September?
Der Sommer war der unmittelbar davor. Am 11. September erhielt ich per Post mein Visum.
Bist Du aus dem unbedingten Bedürfnis, Zürich, die Schweiz zu verlassen, ausgewandert?
Nein, überhaupt nicht. Auch nicht, weil ich New York für die tollste Stadt auf diesem Planeten halte oder weil ich immer schon davon geträumt habe, hier zu leben. Es hat sich einfach so ergeben. Und bisher habe ich meine Entscheidung noch nie bereut.
Wenn man Dir Dein heutiges Leben am Ende Deiner Schulzeit vorgelegt hätte, was hättest Du dazu gesagt?
Aha.
War etwas, das Du in der Schule gelernt hast, Dir später nützlich?
Es geht alles vorbei.